Merz hört mit – Legendenbildung

Fulda/ Gießen. Wir hatten uns in dieser Kolumne (vgl. „Wer nix wird wird Ikone“, 20. Oktober 2014) schon mit allerlei Fragen des Ein- oder Übergangs in die Bereiche der Ewigkeit beschäftigt. Dabei waren einige Aspekte offengeblieben. Nachdem die „Urgestein-Frage“ von den Kollegen vom „Streiflicht“ vorbildlich geklärt worden ist (vgl. Süddeutsche Zeitung, 22./23. August 2015), bleiben noch der Mythos und die Legende zu bearbeiten. Was ist eine Legende? „Die Legende ist eine dem Märchen und der Sage verwandte Textsorte bzw. literarische Gattung. (….) Die Herkunft des Begriffs deutet (…) – im Unterschied zur Sage – eine enge Beziehung zur literarischen Tradition an. Bereits in der Antike entstanden literarische Erzählungen über Personen, die als überragende religiös-sittliche Persönlichkeiten und ‚Heilige‘ wahrgenommen wurden“ (Wikipedia) Ganz anders definiert die ARD in ihrer Handreichung zur gleichnamigen Sendereihe: „Was ist eine Legende? Er/Sie muss so bekannt sein, dass jeder Passant eine Vorstellung, oft auch ein Klischee, spontan zur Hand hat.“ Nun ist es natürlich so, dass angesichts der Tatsache, dass hierzulande jeder Passant zu jeder beliebigen Person bzw. zu jedem beliebigen Sachverhalt spontan jedes beliebige Klischee zur Hand hat, dass also insofern der Legendenbildung keinerlei Grenzen gesetzt sind und daher die Abgrenzung der „Legende“ von allen möglichen Phänomenen eher schwierig ist. Ob dessen ungeachtet vor dem Hintergrund beider Definitionen der gerade 90 Jahre alt gewordene ehemalige Frankfurter Kulturdezernent Hilmar Hoffmann als „Kulturlegende“ bezeichnet werden durfte, darf bezweifelt werden, denn obwohl in gewissen Frankfurter Kreisen schon lange „santo subito“ gerufen wird, ist doch seine Passanten-Gängigkeit und Klischee-Fähigkeit nicht unumstritten. Nicht über jeden Zweifel erhaben ist aber auch die Legenden-Fähigkeit der in der ARD-Reihe berücksichtigten Udo Jürgens, Horst „Hotte“ Buchholz, Peter Frankenfeld, Gert Fröbe, Caterina Valente, Inge Meysel, Joachim „Blacky“ Fuchsberger und (ja tatsächlich in einer Reihe mit all diesen!) Michael Jackson, denen doch allesamt das Heiligmäßige des Lebenswandels abging. Immerhin war der eine oder andere schon zu Lebzeiten ein Klischee seiner selbst, was freilich angesichts des nicht-kanonischen, gewissermaßen apokryphen Status der ARD-Definition die Zweifel nicht ausräumen kann. Allerdings kann man Michael Jackson in eine Reihe mit den – wegen ihrer „überragenden religiös-sittlichen Persönlichkeiten“ – ebenfalls zur Legende erklärten David Bowie und Elvis Presley stellen, welch letzterer im letzten Jahr einer Meldung des Legenden-Fachblatts „Der Postillon“ zufolge im Alter von 80 Jahren auf Samoa gestorben ist, nachdem es ihm gelungen war, seinen Tod schon 1977 zur Legende zu verklären. Eine solche Verklärung war auch Pierre Brice vergönnt, dessen Tod freilich nur unter dem Namen „Winnetou“ legendär wurde, während sein Pferd (oder war es seine Schwester?) Nscho Tschi nicht legendär wurde, weil man Nscho Tschi noch heute für die Apatschen-Sprachen-Version von Hatschi (wiederum nicht zu verwechseln mit dem tatsächlich legendären, weil heiligmäßig nach Mekka gepilgerten Hadschi-Halef-Omar-Ben-Hadschi-Abul-Abbas-Ibn-Hadschi-Dawud-Al-Gossarah) hält. Ordnungsgemäß unter ihrem Legenden-Namen ist vor kurzem die Wrestling-Legende “Rowdy” Roddy Piper gestorben. Piper, der mit bürgerlichem Namen Roderick Toombs hieß, starb allerdings ziemlich unlegendär in Folge einer Herzattacke friedlich im Schlaf in seinem Haus im allerdings wiederum ziemlich legendären Hollywood. Er wurde – der legendären BILD-Zeitung zufolge – von der gesamten „Wrestling-Welt betrauert“. Es ist dies eine Welt, deren Existenz vielen von uns Nicht-Wrestlern bisher – mancher wird jetzt boshaft sagen: erfreulicherweise – verborgen geblieben ist und die uns deshalb ebenso unbegreiflich bleiben muss, wie manchem Wrestler das Leben und Sterben des sagen wir: Hl. Rochus, des Hl. Nikolaus oder der Hl. Ursula, von denen Legenden berichten, die außerhalb des Erfahrungshorizonts der Wrestling-Welt, aber auch der BILD-Zeitung liegen. Der Tod von „Rowdy“ Roddy Piper steht aber in einer Reihe mit dem Tod eines anderen, der ebenfalls aus einem uns Normalsterblichen unbegreiflichen Universum stammte, das freilich einige Ähnlichkeit, wenn nicht gar eine Art Seelenverwandtschaft mit der Wrestling-Welt aufweist: die „Kiez-Legende“ Thomas „Karate-Tommy“ Born ist tot! Born war in den 80er Jahren schnell zum Mitglied der „Nutella-Bande“ avanciert und laut eigenen Worten „Experte für Stress“, hatte einen Mordanschlag und einen Macheten-Angriff überlebt. Seinen letzten und schwersten Kampf hat Thomas „Karate-Tommy“ Born jetzt verloren – und der Kiez trauert, berichtete das legendäre Fachblatt für Parallel-Universen Hamburger Morgenpost, auch MOPO genannt. Karate-Tommy erlitt – rätselhafte Fügung des Schicksals – ebenso wie Rowdy-Roddie einen Herzinfarkt, starb also der Legende zufolge an gebrochenem Herzen. All dieses Leben und Sterben wirft denn doch allerlei Fragen nach dem inneren Wesen des Heiligmäßig-Legendären auf, die wir aber an dieser Stelle vorsichtshalber unbeantwortet lassen, da wir uns den Weg zur Legende, resp. zum Mythos, resp. zum Urgestein, resp. zur Ikone der Satire und der Sprachkritik nicht unnötig verbauen wollen. Außerdem sind wir keine Experten für Stress und extrem herzinfarktgefährdet. Unstreitig ist und bleibt aber: Franz Beckenbauer ist und bleibt die Legende schlechthin, sowohl wegen seines heiligmäßigen Lebens als auch, weil ihm zu allem und jedem ein Klischee einfällt bzw. weil jedem zu ihm ein Klischee einfällt! Zum Beispiel das, dass er ein lebender Mythos sei. Doch davon ein andermal! +++ fuldainfo | gerhard merz